SOMMER

DER

MIGRATION

2015*REMEMBERED

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2015*remembered – Im Sommer 2015 kamen innerhalb kürzester Zeit mehr als eine Million geflüchteter Menschen nach Europa. Die Erinnerung an diese Zeit ist verbunden mit starken Momenten der Selbstermächtigung geflüchteter Menschen und gelebter praktischer Solidarität vonseiten der Aufnahmegesellschaft – aber auch der Persistenz stigmatisierender Ausschlussstrukturen sowie unerbittlichen Backlashs. 2015*remembered porträtiert verschiedene persönliche Perspektiven aus Brandenburg auf den „Sommer der Migration“ im Jahr 2015. Dazu gehört auch ein kritischer Blick auf die Situation heute – 10 Jahre später – und der Versuch, einen Blick in die Zukunft zu wagen.

Erinnerungen an den „Sommer der Migration“ im Jahr 2015 rufen eine Vielzahl eindrucksvoller Bilder hervor: der kilometerlange Marsch geflüchteter Menschen, die in Budapest aufbrachen und auf dem Seitenstreifen entlang der ungarischen Autobahn in Richtung deutsche Grenze liefen; Angela Merkels berühmter Satz „Wir schaffen das!“; oder die vollen Bahnhofshallen deutscher Städte, in denen Freiwillige Verpflegung, Schlafplätze oder Zugtickets für die Weiterreise organisierten.

Neben diesen medial präsenten Szenen bleibt insbesondere die Selbstermächtigung geflüchteter Menschen in Erinnerung. Ihr mutiges Überwinden von Grenzen und Zäunen mobilisierte immer mehr Menschen, sich ihnen anzuschließen und sich gegenseitig in dieser langen und anstrengenden Zeit zu unterstützen. Diese Momente waren geprägt von Aufbruch und Hoffnung, von einer Kraft, die die bestehende Ordnung herausforderte und neue Perspektiven eröffnete. Aus der Atmosphäre des Aufbruchs erwuchs bundesweit in beeindruckender Geschwindigkeit zivilgesellschaftliches Engagement. Zahlreiche Willkommensinitiativen entstanden, in denen Menschen Kochabende als Orte der Begegnung organisierten, Kleiderspenden sortierten, geflüchtete Menschen bei Behördengängen unterstützten oder Sprachtandems ins Leben riefen. Was vielerorts als spontane Hilfe begann, wurde für viele zu einem längerfristigen politischen und sozialen Engagement. Einige dieser Initiativen haben sich seitdem weiterentwickelt. Sie setzen heute ihren Fokus stärker auf antirassistische Arbeit und gestalten gemeinsam mit geflüchteten Menschen, die seit 2015 in Deutschland leben, neue Visionen für ein solidarisches Zusammenleben. Die Erfahrungen aus jener Zeit wirken also nach – in einem praktischen Einsatz für mehr Gerechtigkeit und Teilhabe.

Doch diese Erzählung ist nicht widerspruchsfrei: Die Geschehnisse in 2015 offenbarten auch schonungslos die ungenügende Vorsorge bei der Aufnahme, Unterbringung und Versorgung bei Bund, Ländern und Kommunen. Es wurde zudem auf beschämende Weise sichtbar, wie tief die rassistische Unterscheidung in „gute“ und „schlechte“ geflüchtete Menschen verankert ist – zum Beispiel an den nur selektiv gewährten Erleichterungen des Zugangs zu Sprachkursen. Auch die weiterhin bestehenden Diskriminierungen von seit Jahrzehnten in Deutschland lebenden geflüchteten Menschen dürfen nicht ausgeblendet werden. Dies ebenso wie die zahlreichen restriktiven politischen Entwicklungen und die zahlreichen Gesetzesverschärfungen, die ein menschenwürdiges Ankommen und Bleiben geflüchteter Menschen laufend sabotiert haben oder die zunehmende Kriminalisierung des in 2015 so hoch gelobten zivilgesellschaftlichen Engagements.

Ausgehend von diesen unterschiedlichen Perspektiven und Erfahrungen ist es umso wichtiger, sich in allen Facetten an diese besondere Zeit zu erinnern – an die Momente des Aufbruchs und der Kraft, aber auch der nicht überwundenen Ungerechtigkeiten und Schieflagen. Der „Sommer der Migration“ bleibt so ein bedeutsames, durchaus ambivalent zu erinnerndes politisches Moment. Und nichtsdestotrotz: In positiver Hinsicht steht er für gelebte Hoffnung, gelebte Solidarität und gelebte Menschlichkeit. In Erinnerung behalten werden kann so, dass ein anderes Miteinander möglich ist – geprägt von gegenseitiger Unterstützung und dem Drang nach Veränderung. Gerade angesichts des aktuellen gesellschaftlichen Rechtsrucks ist es wichtiger denn je, diese Zeit in all ihren politisierenden, empowernden und verbindenden Facetten als Gegenbild zur Spaltung wachzuhalten – und mit Blick nach vorne: um gemeinsam bestehende Verhältnisse aufzubrechen und für eine gleichberechtigte und solidarische Vision des Zusammenlebens zu kämpfen.

 

Was verbindest du mit dem Jahr 2015?

Mit dem Jahr 2015 verbinde ich eine Welle von Hilfsbereitschaft in unserem Land, um Menschen in Not zu helfen. Die Gründungen von zahlreichen Willkommensinitiativen bis in die kleinsten Ortschaften im Lande Brandenburg. Unkonventionell wurde geholfen (Fahrradwerkstätten, Nähstuben, Begegnungsfeste etc. ). Demos (Widerstand) gegen ‚Nein zum Heim‘ Initiativen der Rechten. (Thomas Wisch)

Es diese riesige Welle der Solidarität, die mich tief bewegt hat. Durch alle gesellschaftlichen Schichten hindurch und nahezu parteiübergreifend. Es war klar, dass wir helfen mussten und wollten.(Melanie Ebell)

Organising the large demonstration in Potsdam to welcome the march and accompany its participants to the Brandenburg/Berlin border. Joining the evening sessions at the Oplatz to discuss strategies for increasing women’s visibility in the movement.(Bethi)

2015 – das Jahr der Willkommensinitiativen. Ich erinnere mich an sehr engagierte Menschen, die sich in vielfältiger Form dafür bereit gemacht haben, geflüchtete Menschen bei sich aufzunehmen und willkommen zu heißen. Was zunächst praktische Unterstützung bedeutete in Form von Fahrrad- und Kleiderspenden, Sprachcafés und so weiter entwickelte sich mancherorts zu politisch lauten Initiativen, die sich über restriktives und willkürliches Behördenhandeln empörten. (Kirstin Neumann)

Ich erinnere mich gut daran, als viele Geflüchtete aus unterschiedlicher Länder, Kulturen,  Religionen und Hautfarben nach Deutschland kamen. Für uns in Eberswalde und im Landkreis Barnim wussten die Behörden damals nicht mehr, wo sie all diese Menschen unterbringen sollten. Deshalb haben wir  in Palanca ein Projekt ins Leben gerufen, bei dem wir Wohnungen angemietet und an Geflüchtete weitervermietet haben. So konnten wir die überfüllten Flüchtlingsunterkünfte entlasten. Das war unsere Hilfe damals – und sie besteht bis heute fort.(Augusto Jone Munjunga)

Das war tatsächlich prägend – viele Menschen haben sich engagiert, geholfen, organisiert, Spenden gesammelt, Unterkünfte geschaffen oder einfach mit offenen Armen empfangen. Es war ein Moment, in dem Mitgefühl nicht nur ein Wort war, sondern gelebte Realität und Solidarität.(Jibran Khalil)

2015 kam die Welt  nach Jüterbog – auf den Marktplatz, in Schulen, Kindergärten und an manche Arbeitsstelle. Seither ist unsere Stadt bunter, weltoffener, internationaler geworden. Menschen aus verschiedensten Herkunftsländern sind unsere neuen Nachbarn. Ihr größter Wunsch ist es, Teil der Gesellschaft zu sein wie alle anderen, einfach dazuzugehören. Hierzu braucht es  Bemühungen auf beiden Seiten, viel Geduld und immer wieder Mut.(Mechthild Falk)

Hoffnung und Aufbruch … Migrationsbewegungen überwanden Grenzen und trennende Zäune.(Simone Tetzlaff)

2015 war ein spannendes Jahr, wo gerade im ländlichen Raum an vielen Orten Willlkommensinitiativen entstanden und viele Widerstände gegen die Beherbergung von Flüchtlingen überwunden werden konnten.
So mancher hat in diese Zeit nicht nur viele spannende neue Menschen und Kulturen kennengelernt, sondern auch ganze neue Kompetenzen entdeckt.(Christiane Schulz)

Groß Schönebeck – ein Dorf in Brandenburg – hatte sich 2015 freiwillig entschieden, Flüchtlinge aus Syrien aufzunehmen. Es kamen spannende, das Leben im Dorf verändernde und wohltuende Zeiten. Es gab eine win-win Situation: Die Flüchtlingsfamilien bekamen alle eine Wohnung – die Grundschule und die Heidekrautbahn konnten erhalten werden. Ungeahnt Viele beteiligten sich aktiv daran, dass Begegnung und sich Kennenlernen möglich wurden.(Annette Flade)

Ich habe damals in Berlin gelebt und zum ersten Mal in meinem Kiez echte Nachbarschaft und Gemeinschaft erlebt, unter Geflüchteten und Alteingesessenen, die sich zusammengeschlossen haben um aus dem Nichts etwas zu erschaffen, um das Unsagbare erträglich zu machen. Ich habe tiefe Freundschaften geschlossen, die bis heute bestehen und die tapfersten, freundlichsten und resillientesten Menschen kennengelernt. Darunter war ein 16-jähriges Mädchen, das damals als Analphabetin in Deutschland zum ersten Mal in die Schule gegangen ist, in einer überhitzten Turnhalle ihre Hausaufgaben gemacht hat (und das sogar während Ramadan, der in dem Jahr in den Hochsommer fiel, es also nur sehr wenige Stunden zur Nahrung- und Wasser-aufnahme gab). Sie hat sich durchgebissen und trotz rassistischer Entmutigungen hat sie heute ihr Fachabi. Ich bin so stolz auf sie. Aber vor allem ist sie ein wunderbarer Mensch und ich bin so froh, sie und ihre Familie zu kennen.(Janne Hanoun)

 

An welchen Moment aus dem Jahr 2015 erinnerst du dich gerne?

Im September und November 2015 wurden in Jüterbog zwei neue Flüchtlingsheime eröffnet. In vorangegangenen Bürgerversammlungen wurden lautstark Befürchtungen und Proteste geäußert. Und es kam so anders. Denn es kamen damals fast ausschließlich Familien mit Kindern. Schnell entstanden Kontakte. Und aus ersten Kontakten wurde manch feste Freundschaft. Viele davon bestehen bis heute und sind ein Gewinn für beide Seiten. (Mechthild Falk)

Der ‚Sommer der Migration‘ war für uns als Beratungsstelle für Betroffene rechter Gewalt leider vor allem durch die rassistischen Angriffe in Folge der Pegida-Bewegung und ihrer Ableger geprägt. Wir haben in dieser Zeit aber unglaublich viele, sehr verschiedene Menschen in Brandenburg getroffen, die in den Willkommensinitiativen Verantwortung für eine humane Aufnahme der Geflüchteten übernommen haben. Und wir haben Menschen aus Syrien, Eritrea, dem Iran und anderen Ländern kennengelernt, die aktiv und demokratisch für ihre Menschenrechte und für ein Ankommen in dieser Gesellschaft gekämpft haben. Daran erinnern wir uns gerne. (Johannes Püschel)

Im Jahr 2015 gab es viele bewegende Begegnungen. Doch ein Moment hat mich besonders tief berührt: Ich habe miterlebt, wie ein Mensch mit einer Behinderung – trotz seiner eigenen Herausforderungen – Geflüchteten geholfen hat. Dieser Moment war für mich ein Zeichen echter Menschlichkeit. Er hat mir gezeigt, dass Mitgefühl keine Grenzen kennt. Dass Hilfe nicht davon abhängt, wie viel man hat oder wie stark man ist, sondern davon, ob man bereit ist, für andere da zu sein. Es hat mich emotional tief getroffen und beeindruckt. Gerade weil dieser Mensch selbst mit Schwierigkeiten lebt, war seine Solidarität ein stilles, aber kraftvolles Zeichen: Jeder Mensch kann etwas geben. Und manchmal sind es genau die leisen Gesten, die am meisten bedeuten. (Jibran Kahlil)

Den mutigen Satz von der damaligen Bundeskanzlerin „Wir schaffen das!“ . Da war ich echt stolz auf unser Land. Daneben viele Gespräche und Begegnungen mir geflüchteten Menschen, z.B. mit einem Vater und Sohn aus dem Iran. (Thomas Wisch)

Der letzte Gutscheintausch in Oberhavel am 04.02.2015! Seit dem Start der Kampagne im Juli 2013 hatte die Initiative „Willkommen in Oberhavel“ Wertgutscheine im Umfang von über 150.000 Euro eingetauscht. Geflüchtete Menschen erhielten ihre Asylbewerberleistungen damals nicht in bar oder per Überweisung, sondern in Form von Wertgutscheinen – ein System, das stigmatisierend und diskriminierend ist. Erst 2015 beendete der Landkreis Oberhavel diese rassistische Praxis der Leistungserbringung. (Kirstin Neumann)

Belonging to the network of women’s groups and individuals who initiated the organisation of Germany course classes for women at the occupied school on Ohlauer Straße. (Bethi)

Es war fantastisch mitzuerleben wie die Mobilisierung der Geflüchteten auf die hiesige Gesellschaft überging und sich flächendeckend in den Dörfern, Gemeinden und Städten soldarische Netzwerke bildeten und entwickelten. (Simone Tetzlaff)

Besonders in Erinnerung sind mir Gottesdienste in liturgischer Gastfreundschaft in Erinnerung geblieben. Christ*innen und Muslim*innen haben gemeinsam, mehrsprachig gebetet, gesungen und gefeiert. Das war sehr berührend. (Christiane Schulz)

Was alles geht, auch zwischen „Fremden“ und „Alteingesessenen“, wenn es gewollt und gestaltet wird – das ist, was bis heute nachwirkt. (Anette Flade)

 

Gibt es etwas, das du dir heute von der Gesellschaft wünscht?

Ich wünsche mir eine Gesellschaft, die sich als Migrationsgesellschaft begreift, in der zivilgesellschaftliches Engagement anerkannt und gefördert statt kriminalisiert wird – und in der die Vision eines antirassistischen und diskriminierungsfreien Zusammenlebens nicht als Utopie abgetan, sondern als gemeinsame Aufgabe verstanden wird.(Kirstin Neumann)

More solidarity and to continue with the “Refugee welcome” for all asylum seekers program and not only in time of what they perceive as “crisis”. (Bethi)

Mehr Empathie und Mut für Menschenrechte – und gegen Rassismus. Rassismus zeigt sich heute oft subtil, strukturell oder im Alltag – und braucht Menschen, die nicht wegsehen. Der Mut, sich für andere einzusetzen, beginnt oft im Kleinen: beim Widerspruch, beim Zuhören, beim Sich-solidarisieren.(Jibran Kahlil)

Ich wünsche mir die Neugierde auf Neues, Bereitschaft zum Teilen unseres Wohlstandes, Fähigkeiten des Dialoges untereinander, sowie unterschiedliche Positionen aushalten zu können und gute Kompromisfähigkeit. Klares Bekenntnis gegen rassistische und rechtsextreme Einstellungen.(Thomas Wisch)

Positive Rückbesinnung auf die damalige Solidarität und Neuentwicklung der zivilgesellschaftlichen Stärke und Vernetzung.(Simone Tetzlaff)

Dies große Offenheit und Zugewandtheit für Menschen, die Schutz und Unterstützung suchten, wünsche ich mir auch heute für unser Miteinander nicht nur Flüchtlingen gegenüber.(Christiane Schulz)

Dies große Offenheit und Zugewandtheit für Menschen, die Schutz und Unterstützung suchten, wünsche ich mir auch heute für unser Miteinander nicht nur Flüchtlingen gegenüber.(Christiane Schulz)